Das Problem des Justizirrtums

 

Befürworter der Todesstrafe betonen gern, dass für das gesamte 20. Jahrhundert bis heute in den USA nicht ein Fall nachgewiesen sei, in dem ein Unschuldiger hingerichtet wurde. Das ist so überraschend allerdings nicht: Da die Verantwortlichen einen solchen Beweis scheuen wie der Teufel das Weihwasser, wie man so schön sagt, setzen sie alles daran, diesen Nachweis zu verhindern. So werden beispielsweise für nachträgliche DNA-Untersuchungen Materialien nicht herausgegeben oder Untersuchungen anderweitig behindert.

 

Gegner der Todesstrafe sind davon überzeugt, dass in den Vereinigten Staaten schon Unschuldige hingerichtet wurden. Die bekanntesten Fälle, in denen es massive Zweifel an der Schuld des Hingerichteten gibt, sind:

 

Cameron Todd Willingham

Willingham wurde 2004 im US-Bundesstaat Texas hingerichtet, weil er 1991 durch Brandstiftung seine eigenen drei kleinen Kinder getötet haben soll. Namhafte Sachverständige erklärten die 1991 erfolgte Untersuchung des Tatorts und die daraus gezogenen Schlussfolgerungen für fragwürdig - es spreche viel mehr dafür, dass es sich nicht um Brandstiftung, sondern um einen Unfall gehandelt habe. Entsprechende Hinweise wurden dem damaligen Gouverneur von Texas, Rick Perry, noch vor Willinghams Exekution übermittelt, doch Perry stoppte die Hinrichtung nicht. Nach einem ausführlichen Bericht in der Zeitung "The New Yorker" wurde der Fall wieder aufgegriffen. Eine texanische Kommission sollte ihn untersuchen. Als die Ergebnisse aus Sicht von Perry in die falsche Richtung liefen, tauschte der Gouverneur kurzerhand erst das Personal der Kommission aus und verbot ihr schließlich, den Fall weiter zu bearbeiten.

 

Weil sich Antonin Scalia, Richter des Obersten Gerichtshofes der Vereinigten Staaten, einmal sehr weit aus dem Fenster gelehnt und erklärt hat, er sei überzeugt, dass niemals ein Unschuldiger in den USA hingerichtet wurde, andernfalls würde man seinen Namen von den Dächern der Häuser rufen - Redewendung im Englischen für "etwas an die große Glocke hängen" -, wurde eine Kampagne für Cameron Todd Willingham "Shouting from the Rooftops" genannt.

 

Mehr Informationen gibt es auf der Website zu Cameron Todd Willingham.

 

Troy Anthony Davis

Troy Anthony Davis wurde 2011 im US-Bundesstaat Georgia hingerichtet, 20 Jahre, nachdem er wegen Polizistenmordes zum Tod verurteilt worden war. Davis hatte immer seine Unschuld beteuert. Schwerwiegende Zweifel kamen auf, weil sieben der Belastungszeugen ihre Aussage später widerriefen. Der Fall Troy Davis rief ein großes Medienecho und internationale Proteste hervor. Dreimal wurde seine Hinrichtung verschoben. Letztlich stellte ein Gericht fest, er habe nicht zweifelsfrei seine Unschuld beweisen können. Es ist schon erstaunlich, wie sich hier die Beweislast auf einmal umkehrt: Bei einem Prozess gilt der Angeklagte als unschuldig, bis seine Schuld belegt ist, und begründete Zweifel an der Schuld reichen theoretisch für einen Freispruch aus. Steht das Urteil einmal fest und man kämpft in den Berufungsverfahren, genügt ein schwerwiegender Zweifel an der Schuld plötzlich nicht mehr, und der Häftling muss zweifelsfrei seine Unschuld beweisen.

 

Weitere Informationen zu Troy Anthony Davis gibt es bei Wikipedia.

 

Carlos DeLuna

Carlos DeLuna wurde 1989 im US-Bundesstaat Texas hingerichtet für den Mord an einer Frau im Jahre 1983. DeLuna erklärte immer wieder, dass nicht er, sondern ein Mann namens Carlos Hernandez die Tat begangen habe. Die Staatsanwaltschaft tat Hernandez als "Phantom" ab und weigerte sich, entsprechende Nachforschungen anzustellen, obwohl Hernandez wegen ähnlicher Delikte vorbestraft war. 2012 veröffentlichte Columbia Human Rights Law Review einen 430-seitigen Bericht mit dem Titel "Los Tocayos Carlos", der aufweist, dass DeLuna offenbar tatsächlich der Falsche war. Professor Liebman von der Columbia Law School und seine Studenten zeigen darin, dass widersprüchliche Zeugenaussagen, Fehler bei der polizeilichen Ermittlungsarbeit und fehlende Informationen dazu geführt haben, dass DeLuna für schuldig befunden wurde. Eine Rolle spielte auch, dass sich DeLuna und Hernandez stark ähnlich sahen. Fotos von beiden sind in der Präsentation über Augenzeugen unter "Tools" enthalten.

 

Weitere Informationen zu Carlos DeLuna:

Carlos DeLunas Hinrichtung: Giftspritze für einen Unschuldigen

US-Justizirrtum: Als der falsche Carlos in Texas hingerichtet wurde

 

Weitere Fälle...

... von in den USA Hingerichteten,

die möglicherweise unschuldig waren:

Executed But Possibly Innocent

 

... und eine Buchempfehlung:

Sister Helen Prejean: The Death of Innocents - An Eyewitness Account of Wrongful Executions - ist das zweite Buch der berühmten Ordensschwester, die "Dead Man Walking" geschrieben hat, leider nur auf Englisch erhältlich.

 

 

Andere hatten mehr Glück: Seit den 70er Jahren sind in den USA 191 Häftlinge, die zum Tod verurteilt waren, wegen erwiesener Unschuld entlastet und in der Regel freigelassen worden. Während diese Menge der Entlasteten - auf 8 Hingerichtete in den USA kommt ungefähr einer, der fälschlicherweise zum Tod verurteilt war - für die Gegner der Todesstrafe eher zeigt, wie anfällig und fehlerhaft das System arbeitet, werten die Befürworter der Todesstrafe die Entlassenen als Bestätigung. Das System funktioniere doch, deshalb seien die Fehlurteile ja korrigiert worden. Häufig genug haben die Betroffenen allerdings nicht einmal eine Entschädigung oder ein Wort der Entschuldigung erhalten.

 

Innocence: List of Those Freed From Death Row

Unschuldige und ihre Fälle in Kürze

Texas death row inmates who escaped execution after wrongful convictions

 

Bekannte Fälle, weil die Betroffenen mit ihrer Geschichte an die Öffentlichkeit gehen, sind z.B. die von...

Juan Melendez, fast 18 Jahre unschuldig im Todestrakt von Florida,

Ray Krone, zum Tod verurteilt in Arizona und nach 10 Jahren entlassen,

Anthony Graves, in Texas im Todestrakt und nach 18 Jahren frei,

... und dann ist da noch der Fall von:

 

Debbie Milke

Debra Jean Milke ist eine in Berlin geborene US-Amerikanerin, die 1990 im Bundesstaat Arizona zum Tod verurteilt wurde, weil sie die Ermordung ihres vierjährigen Sohnes in Auftrag gegeben haben sollte. Hauptbelastungszeuge war der Polizist Armando Saldate, der im Prozess angab, Milke hätte ihm gegenüber ein Geständnis abgelegt, von dem es jedoch nur sein eigenes Gedächtnisprotokoll gab - keine Audio- oder Videoaufzeichnungen, keine Unterschrift von Debbie Milke. Später ist bekannt geworden, dass Saldate mehrfach unter Eid gelogen hat. Da er damals für ein öffentliches Amt kandidierte, hatte er zudem ein Motiv - eine kaltblütige Kindsmörderin überführt zu haben, brachte ihm Pluspunkte in der Öffentlichkeit. Fast 23 Jahre saß Milke in der Todeszelle, bis 2013 das Urteil außer Kraft gesetzt und die Staatsanwaltschaft angewiesen wurde, sie entweder erneut anzuklagen oder freizulassen. Anderthalb Jahre war Debbie Milke auf Kaution frei, musste allerdings eine elektronische Fußfessel tragen und durfte zwischen 21 und 6 Uhr das Haus nicht verlassen. Der Staat Arizona plante für 2015 einen neuen Prozess und die Anklagevertretung wollte erneut die Todesstrafe fordern. Armando Saldate wollte nicht mehr aussagen, um sich nicht selbst zu belasten. Im Dezember 2014 entschied ein Gericht, Debbie Milke dürfe nicht erneut vor Gericht gestellt werden. Die Staatsanwaltschaft ging gegen die Entscheidung in Berufung, scheiterte jedoch. Im März 2015 wurde das Verfahren eingestellt und Debbie Milke kam endgültig frei. Ihr Fall ist in Deutschland vor allem dadurch bekannt geworden, dass ihre Mutter, die Deutsche Renate Janka, sich massiv für sie eingesetzt und den Fall in die Medien gebracht hat. Die endgültige Freiheit ihrer Tochter erlebte die Mutter allerdings nicht mehr: Renate Janka verstarb im August 2014.

 

10-minütige Doku der ARD von 2012 über Debbie Milke

Buch von Renate Janka von 2002 - gebraucht über Amazon

Statement von Debbie Milke am Tag nach ihrer endgültigen Entlassung

Buch von Debbie Milke über ihre Geschichte - März 2016

 

 

In Deutschland bekannt geworden ist auch der Fall von:

Dieter Riechmann

Der Deutsche Dieter Riechmann saß 22 Jahre in Florida in der Todeszelle. Er soll 1987 während eines Florida-Urlaubs seine Freundin erschossen haben. Riechmann selbst beteuerte immer seine Unschuld - es habe sich um einen Überfall gehandelt. 2010 wurde das Urteil des damals 65-Jährigen in eine lebenslange Haftstrafe umgewandelt. Riechmanns Unschuld ist also aus Sicht des Staates Florida keinesfalls erwiesen und er sitzt immer noch im Gefängnis. Unter dem Titel "Todesstrafe für eine Lüge" enthüllte schon vor über zehn Jahren eine Dokumentation des deutschen Fernsehens die skandalösen Umstände, die zur Verurteilung Dieter Riechmanns geführt haben.

 

90-minütige Doku der ARD über den Fall Riechmann von 2004

 

 

Einen sehr hohen internationalen Bekanntheitsgrad schließlich hat der Fall:

Mumia Abu-Jamal

Mumia Abu-Jamal, geboren 1954 als Wesley Cook, wurde 1982 im US-Bundesstaat Pennsylvania wegen der Ermordung eines Polizisten zum Tod verurteilt. Der Fall ist umstritten - seine Anhänger halten ihn für unschuldig und sehen die Hintergründe der Verurteilung in der Tatsache, dass er als Journalist und Politaktivist tätig und Mitglied radikaler Gruppierungen war. So vermutete Amnesty International hinter dem Prozessverlauf rassistische Vorbehalte, die mit Mumia Abu-Jamals politischem Engagement zusammenhingen. 2001 wurde das Todesurteil aufgehoben, weil in der Strafzumessungsphase mögliche mildernde Umstände nicht thematisiert worden seien. Das jahrelange juristische Tauziehen in den Berufungsverfahren fand 2011 damit sein vorläufiges Ende, dass eine erneute Verhängung der Todesstrafe ausgeschlossen wurde, aber ebenso weitere Revisionen, sodass Mumia Abu-Jamal nun eine lebenslange Haftstrafe absitzt.

 

Informationen über Mumia Abu-Jamal

Letzte Chance für Mumia Abu-Jamal

 

Paradebeispiel Illinois

Bleibt am Ende noch auf - nicht auf einen konkreten Fall, sondern auf einen US-Bundesstaat - Illinois hinzuweisen. Illinois ist ein Paradebeispiel, wenn es um das Problem der Justizirrtümer geht. Im Jahr 2000 erließ der damalige Gouverneur von Illinois, George Ryan, ein Moratorium - also einen Hinrichtungsstopp - für seinen Bundesstaat. Es stimmte ihn mehr als bedenklich, dass Illinois im selben Zeitraum, in dem 12 Todesurteile vollstreckt worden waren, 13 zum Tod Verurteilte wegen erwiesener Unschuld freilassen musste - zu verdanken vor allem der Arbeit von Professor David Protess und seinen Studenten. Ryan ließ die Praxis der Todesstrafe in Illinois einer gründlichen mehrjährigen Prüfung unterziehen. Zum Ende seiner Amtszeit im Jahre 2003 war es Ryans letzte Amtshandlung, dass er alle 167 Todeskandidaten begnadigte: Vier kamen frei und die anderen erhielten lebenslange Haftstrafen. 2011 schaffte der US-Bundesstaat Illinois die Todesstrafe endgültig ab.

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